Wir, die Unterzeichner:innen dieses offenen Briefs, fordern eine ernsthafte, gesamtstaatliche Diskussion über die sicherheits- und verteidigungspolitische Zukunft Österreichs und die Verabschiedung einer neuen Sicherheitsdoktrin.


Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ist nicht nur ein Verbrechen und eine Tragödie, sondern auch der letzte Warnruf an die freie Welt, der auch Österreich angehört. Wenn wir unser Lebensmodell einer unabhängigen, demokratischen und dem Rechtsstaat verpflichteten Gesellschaft beibehalten wollen, müssen wir uns dringlich einer ehrlichen Diskussion stellen, auf welche Weise und mit welchen Fähigkeiten wir uns verteidigen wollen.


Unsere Neutralität - in der Praxis sehr flexibel interpretiert - wurde nie auf ihre aktuelle Zweckmäßigkeit überprüft, sondern zum vermeintlich unantastbaren Mythos erhoben. Als EU-Mitglied und Teilnehmer an der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU ist Österreich schon jetzt zur Solidarität verpflichtet. Angesichts der aktuellen Bedrohung muss es eine Debatte ohne Scheuklappen geben. Die Unterzeichner:innen dieses Aufrufs haben unterschiedliche Positionen zu Fragen wie Neutralität und Bündnisfreiheit, einer vertieften EU-Verteidigungspolitik oder einem Betritt Österreichs zur NATO. Uns eint die Überzeugung, dass der Status quo unserer Sicherheitspolitik nicht nur unhaltbar, sondern gefährlich für unser Land ist.


Unsere Nachbarschaft ist in den letzten Jahren unsicherer geworden und unsere Gesellschaft zunehmend bedroht: Konflikte in der östlichen und südlichen Nachbarschaft, islamistischer Terror, Einflussnahme auf demokratische Prozesse durch Russland und China, Erstarken gewaltbereiter rechtsradikaler Gruppierungen, Cyberangriffe. Trotz eindringlicher Warnrufe von Experten kam es in der Folge nicht nur zu keiner Stärkung des Bundesheeres und unserer Nachrichtendienste, sondern sogar zu deren Schwächung. Wir sind nun unvorbereitet, und das in der schwersten sicherheitspolitischen Krise Europas seit 1945.


Wir müssen die sicherheitspolitischen Lehren daraus ziehen, dass sich Österreich energiepolitisch von Russland abhängig gemacht und sich an Putin angebiedert hat – trotz seiner autoritären und menschenrechtsverletzenden Führung, trotz Auftragsmorde in EU-Mitgliedstaaten, trotz kriegerischer Aggressionen.


Wir schlagen daher eine breit angelegte Debatte über die Zukunft der österreichischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik vor, geleitet durch eine vom Bundespräsidenten eingesetzte unabhängige Expertengruppe.


  • Diese Debatte muss jetzt beginnen, ihr muss ausreichend Zeit gegeben werden, und sie benötigt einen klaren Fahrplan.
  • Sie muss allen Österreicher:innen offenstehen, einschließlich unterstützender Bürgerforen.
  • Als Ergebnis möge das Parlament eine neue österreichische Sicherheitsdoktrin und eine sie implementierende Gesetzgebung beschließen.


Diese neue Sicherheitsdoktrin erfordert eine gesamtgesellschaftliche Diskussion, in der parteipolitische Interessen in den Hintergrund und das Gesamtwohl unseres Staates in den Vordergrund treten sollte. An dieser Diskussion sind wir bereit mitzuwirken.


Die Unterzeichner äußern sich hier als Staatsbürger:innen, nicht als Vertreter:innen ihrer Institutionen.

OPEN LETTER

TO THE FEDERAL PRESIDENT, THE FEDERAL GOVERNMENT, THE NATIONAL PARLIAMENT AND THE POPULATION OF AUSTRIA

We, the signatories of this open letter, call for a serious, nationwide discussion about the future of Austria's security and defence policy and for the adoption of a new security doctrine.


Russia's war of aggression against Ukraine is not only a crime and a tragedy, but also the last warning call to the free world, of which Austria is also part. If we want to maintain our model of life of as an independent, democratic society committed to the rule of law, we urgently need to engage in an honest discussion about how and with which capacities we want to defend ourselves.


Our neutrality - interpreted very flexibly in practice - was never checked for its up-to-date functionality, but raised to a supposedly untouchable myth. As an EU member state and participant in the EU Common Security and Defence Policy, Austria is already obliged to act in solidarity. Given the current threat, there needs to be a debate without blinders. The signatories of this call have different positions on issues such as neutrality and non-alignment, a deeper EU defence policy or Austria's entry into NATO. We are united in the conviction that the status quo of our security policy is not only unsustainable, but dangerous for our country.


Our neighbourhood has become less secure in recent years and our society is increasingly threatened: conflicts in the Eastern and Southern neighbourhoods, Islamist terror, exertion of influence on democratic processes by Russia and China, rise of violent right-wing extremist groups, cyber-attacks. Despite urgent warnings from experts, our armed forces and intelligence services were not only not strengthened, they were even weakened. We are now unprepared, and this in the worst security crisis in Europe since 1945.


We have to learn the security policy lessons from the fact that Austria has made itself dependent on Russia in terms of energy and has ingratiated itself with Putin – despite his authoritarian and human rights-violating leadership, despite ordered assassinations in EU member states, despite military aggression.


We therefore propose a broad debate on the future of Austria's security and defence policy, led by an independent group of experts appointed by the President.

  • This debate needs to start now, it needs to be given sufficient time and it needs a clear roadmap.
  • It must be open to all Austrians, including supporting citizen forums.
  • As a result, Parliament should adopt a new Austrian security doctrine and its implementing legislation.


This new security doctrine requires a discussion that involves society as a whole, in which party politics take a back seat and the overall well-being of our state comes to the fore. We are ready to participate in this discussion


The signatories express themselves here as citizens, not as representatives of their institutions.